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IN MEMORIAM KURT GERSTEIN

Kurt Gerstein (1905 - 1945) – eine beinahe unfassbare Persönlichkeit

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Hans-Georg Hollweg (*1929  2014) über Kurt Gerstein


Mönchengladbach, 28. April 2010



Es ist eine schwierige Aufgabe, Kurt Gerstein darzustellen und ihn verständlich zu machen, da nach unseren Normen zu viele Abweichungen vorhanden sind. Ich werde nicht mit philosophischen oder religiösen Thesen diesen Versuch starten, sondern ganz einfach mit den Dingen, die ich persönlich erlebt habe.


Wie kam Kurt Gerstein nach Mönchengladbach? Mein Bruder Dieter war 1936 in einem Jugendlager der Bekennenden Kirche in Zingst. Dort hatte Kurt Gerstein ihn wohl in sein Herz geschlossen. Ich weiß nicht, wann er meine Eltern anrief, da er sie kennen lernen wollte. Das gemeinsame Band war die Bekennende Kirche, Oppositionsbewegung gegen die Deutschen Christen, die das Hitlerbild auf den Altar stellten. Kurt Gerstein freute sich über die radikale Ablehnung der Nazis durch meine Mutter, sodass er wiederholt in unser Haus kam. Aufgrund der politischen Situation musste man immer leise reden. Das war in meinem Elternhaus nicht möglich. Vater war seit dem erstem Weltkrieg schwerhörig. Zuhause mussten wir immer laut und deutlich reden. Da die Themen mit Kurt Gerstein für andere Ohren nicht bestimmt waren, hatten meine Eltern uns Kinder mit in die Gespräche einbezogen. Denn wenn wir mit langen Ohren vor der Tür gehorcht hätten, bestand die Gefahr, dass wir darüber plapperten. Die brisanten Themen hätten Kurt Gerstein und meine Eltern ins KZ geführt.


Kurt Gerstein war sehr beliebt bei uns Kindern – wir durften Vatti und Du zu ihm sagen, als ob er zur Familie gehörte. Damals duzte man sich fast nur in der Familie. Vatti lehrte uns viele Streiche und Späße. Aber er nahm unsere kindlichen Aussagen ernst und ließ sich auf Gespräche ein. Ein Abend ist für mich unvergesslich. Es war wohl 1940, ich war 11 Jahre alt. Kurt Gerstein erklärte meinen Eltern, dass er sich freiwillig zur SS melden wolle. Man müsse erfahren, was für schreckliche Dinge im Osten vor sich gingen. Gerüchtweise hörte man von Massenerschießungen und unsagbarer Brutalität in den Arbeitslagern. Meine Mutter, die sich sonst mit ihm so gut verstand, wurde ganz heftig und sagte im scharfen Ton: Sie haben Frau und Kinder, das können Sie nicht. Kurt Gerstein antwortete, es muss einer hinter die Kulissen schauen und die Verbrechen bekannt machen. So nannte ihn sein französischer Biograph Joffroy „der Spion Gottes“.


Lassen Sie mich ganz kurz das Leben von Kurt Gerstein darstellen. Er wurde am 11. August 1905 als sechstes von sieben Kindern einer angesehenen Familie in Münster geboren. Sein Vater war Landgerichtspräsident. Kurt war immer ein sehr eigenwilliges Kind, aber hoch intelligent. In der Schule – davon erzählte er gerne – fiel er durch zahlreiche Streiche auf, die uns Kinder begeisterten. Als sein Vater nach Neuruppin versetzt wurde, fand Kurt zum christlichen Glauben. Beeinflusst von den Söhnen des dortigen Superintendenten schloss er sich dem CVJM und dem Schülerbibelkreis an. Nach dem Abitur studierte er Bergbau in Aachen, Marburg und Berlin. In Aachen lernte er den Niederländer Hermann Ubbink kennen, der später eine wichtige Rolle für ihn spielte. 1931 beendete Kurt Gerstein sein Studium als Diplom-Ingenieur. Danach folgte bis November 1935 die Ausbildung zum Bergassessor. Im Mai 1933 trat er zusammen mit seinem Vater und Brüdern in die NSDAP ein. Die Enttäuschung mit dem Hitlerregime kam schnell, da die Bibelkreise zu Gunsten der Hitlerjugend aufgelöst wurden. Hitler hatte bei der Machtübernahme 1933 erklärt, dass er für das positive Christentum sei. Viele der durch Hitler getäuschten Christen, wie z.B. meine Eltern, schlossen sich der Bekennenden Kirche an, wie auch zahlreiche Alt-Gladbacher Presbyter und Pfarrer. Meine Eltern gehörten weder der Partei noch einer ihrer Organisationen an.


Doch zurück zu Gerstein. Am 30. Januar 1935 kam es zu einem Eklat. Während einer Theateraufführung des rassistisch-heidnischen Trauerspiels „Wittekind“ in Hagen protestierte Kurt Gerstein laut gegen die antichristlichen Aussagen dieses modernen Germanenstückes. Er wurde niedergeschlagen und büßte zwei Zähne ein. Ein Polizist, der im Theater Dienst hatte, sah nichts! Das war der ideale Volksgenosse für das Nazideutschland.


1936 benutzte Gerstein eine Hauptversammlung des Vereins deutscher Bergleute zur Verteilung von Schriften der Bekennenden Kirche. Er wurde im Saarbrückener Zuchthaus in Schutzhaft genommen, wo er erst nach vier Wochen entlassen wurde. Man verfügte seinen Ausschluss aus der NSDAP und Entlassung aus dem Staatsdienst.


Aus einem Erbe an einer Firma in Düsseldorf erhielt er eine kleine Rente. So begann er 1936 ein Studium der Medizin in Tübingen. Ein Jahr später heiratete er Elfriede Bensch, die Schwester eines guten Freundes. Die Trauung hielt der spätere Bischof Otto Dibelius, einer der führenden Leute der Bekennenden Kirche.


Als die Euthanasie unwerten Lebens begann, war für viele Christen jede Sympathie mit den Nazis zu Ende. Zu dieser Zeit bewies sich, wie entscheidend – auch für die Nazis – ein Wort eines Kirchenfürsten war. Nach dem Hirtenbrief des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, wurde die Euthanasie erst einmal gestoppt. Zu dieser Zeit waren die katholische und evangelische Kirche völlig getrennt, ja sie standen sich feindlich gegenüber. Aber der katholische Hirtenbrief wurde im Büro des evangelischen Kirchmeisters in M.G. vervielfältig. Meine beiden Brüder und ich und andere Jugendliche bekamen je eine Adressenliste, in welche Briefkästen wir die Kopien zu werfen hatten.


Kurt Gerstein verlor durch die Euthanasie in Hadamas eine ihm nahe stehende Tante. Er war aufgewühlt und wußte nicht, was er machen konnte. Im Juli 38 wurde er erneut wegen staatsfeindlicher Betätigung verhaftet und kam in das KZ Welzheim bei Stuttgart. Dank der guten Beziehungen seiner Familie zu den Nazis dauerte die Haft nur einen Monat.


Im September 1938 schrieb Kurt Gerstein im Ausland einen Brief an seinen Onkel Robert in USA. Wörtlich schrieb er: „Wir haben den Nationalsozialismus politisch bejaht. Wir müssen aber feststellen, dass wir in religiöser Beziehung in der tollsten Weise an der Nase herumgeführt wurden. Der Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus will den Menschen mit Leib und Seele restlos erfassen und beherrschen.“


Bei Ausbruch des Krieges stellten sich fast alle geschlossen hinter das Regime. Es war Tradition der Kirche, die ins Feld Ziehenden zu segnen und für den Sieg zu beten. Das tat auch die Bekennende Kirche.


Zwei Jahre später meldete Gerstein sich freiwillig zur Waffen-SS. Das war für die meisten seiner Freunde rätselhaft und völlig unverständlich. Trotz seiner anti-nationalsozialistischen Vergangenheit wurde er angenommen. Er machte ungewöhnlich schnell Karriere in der SS, da er erfolgreich Fleckfieber und Typhus Epidemien bekämpfte. Seit Juni 1941 arbeitete er im Hygiene Institut der Waffen-SS in Berlin. Seine Tätigkeit ermöglichte ihm diverse Reisen, bei denen er immer wieder einen Abstecher nach Mönchengladbach machte, um sich mit meinen Eltern auszutauschen. Auch wir Kinder wussten von seinem falschen Spiel als SS-Offizier. Das machte ihn für uns noch interessanter.


Im Januar 42 wurde er Chef der Abteilung Gesundheitstechnik. Am 8. Juni 1942 kam der Sendbote der Endlösung. Gerstein erhielt von Obersturmführer Günther, Eichmanns Adjudant den Auftrag, Blausäure zu besorgen und nach Belzec zu bringen. Wer tierisches Ungeziefer erfolgreich vernichten kann, muss doch auch rassisches Ungeziefer ausrotten können. Es sollten sich keine gesunden Körper mehr anstecken! Sein Bericht über diese Reise ist erschreckend. Gerstein konnte gar nicht fassen, was er sah. Die grausamen, unvorstellbaren Einzelheiten, die er mit eigenen Augen sah, stehen im Gersteinbericht von 1945. Gerstein beobachtete zusammen mit dem Universitätsprofessor Pfannstiel aus Marburg die entsetzlichen Vorbereitungen, bevor die Opfer in die Gaskammer

getrieben wurden. Dann verfolgten die beiden Besucher durch ein Beobachtungsloch das Ersticken dieser Ärmsten in der Kammer. Pfannstiel tut das Klagen der Sterbenden ab mit der Bemerkung: „klingt wie in der Synagoge“. Nach dem Krieg darf dieser Herr weiter die Studenten ausbilden! Bei der Rückfahrt von Warschau nach Berlin am 20. August 1942 traf Gerstein im Zug einen Sekretär der schwedischen Botschaft in Berlin, Baron von Otter. Otter sagte nach dem Krieg: „Gerstein war nur mit Mühe zu bewegen, leise zu sprechen“. Er erzählte ihm unter Tränen die unsäglichen Grausamkeiten der Vergasung von Juden und anderen Mitmenschen. Er bat von Otter dringend, diese Informationen ins Ausland weiterzugeben. Er bat vor allem um die Bombardierung der Zufahrtswege, da täglich neue Züge voll gepfropft mit Opfern in den Lagern ankamen. Gerstein informierte desweiteren kirchliche Kreise, wie Dibelius und Niemöller, den er im KZ besuchte, den Presseattaché der schweizerischen Botschaft in Berlin, D. Strasser, den Syndikus des katholischen Bischofs von Berlin, Dr. Winter, u.a. auch Ehlers und viele seiner Freunde. Alle schwiegen. Für die meisten Deutschen von 1942 war der Jude kein Nächster mehr. 10 Jahre antisemitisches Trommelfeuer, drei Kriegsjahre und die tägliche Not hatten genügt. Das christliche Abendland war stiller Zuschauer bei der Ausrottung der Juden.


Der Protestant Gerstein wendet sich an die katholische Kirche und zwar an den päpstlichen Nuntius Cesare Orsenigo, dem Nachfolger von Eugenio Pacelli, der 1939 als Papst Pius XII gewählt wurde. Pacelli war schon in der Vorhitler-Zeit in Berlin als Nuntius und hatte am 20. Juli 1933 mit Hitler ein Konkordat geschlossen. Was sich in der Nuntiatur bei diesem Besuch abgespielt hat, ist leider bis heute nicht klar. Gerstein, besessen von der Idee, die Verbrechen bekannt zu machen, übermittelte seinen Bericht. Er riskierte wieder einmal sein Leben. Was hat ein SS-Offizier in der Nuntiatur zu suchen? Kurt Gerstein war von der Idee besessen, die Verbrechen bekannt zu machen, dass er die Gefahr in Kauf nahm. Die systematische Ausrottung von Millionen Menschen, die sich über Jahre erstreckte, konnte nichtunbekannt bleiben. Trotzdem taten viele Deutsche diese Berichte als feindliche Propaganda ab. Die Deutschen, ein Kulturvolk, sind zu solchen Verbrechen nicht fähig! Immer wieder denkt Gerstein – genau wie der Führer des Warschauer Ghettos Adam Czerniakow – an Flugblätter, welche die Alliierten über Deutschland abwerfen sollten. Das deutsche Volk müsse die Wahrheit erfahren. Gerstein hielt nichts von einem Attentat auf Hitler. Das könne den Führer zum Märtyrer machen. Seine Getreuen würden die grausame Politik fortsetzen. Nach Gerstein’s Ansicht konnte das Elend nur durch einen Sieg der Alliierten über Deutschland beendet werden. Bischof von Gahlen findet kein Wort gegen den Judenmord, Domprobst Bernhard Lichtenberg von der Berliner St.-Hedwigs-Kathedrale, ein katholischer Priester, hatte von der Kanzel die Worte von Von Gahlen umgemünzt zugunsten der Juden. Er starb 1943 auf dem Weg nach Dachau. Er wurde inzwischen heilig gesprochen.


Offiziell kamen die tausendfachen Morde nicht ans Tageslicht. Die alliierten und neutralen Wortführer schwiegen, obwohl diverse Quellen über die Verbrechen berichteten. Im Juli 1942 gab die polnische Exilregierung in London bekannt, dass seit Kriegsausbruch 700.000 Juden ermordet wurden.


Ein sehr wichtiger Kontakt für Kurt Gerstein war sein Studienfreund Ubbink, der ihn im Februar 1943 in Berlin besuchte. So entstand der erste Gersteinbericht, den Ubbink über den holländischen Widerstand nach England funken sollte. Die Existenz dieses niederländischen Gersteinberichtes wurde Jahrzehnte angezweifelt. Erst 1999 konnte dank der Initiative von zwei Niederländern, Henk Biersteker und Ben van Kaam bewiesen werden, dass dieser erste Gersteinbericht mit Namen und Lokalisierung der Vernichtungslager und der täglichen Vergasungsrate der holländischen Exilregierung in London seit 1943 bekannt war. Man leitete den Bericht an die Regierungen in London, Washington, Kopenhagen und Bern weiter. Die beiden Niederländer haben dann gesucht, wo die holländische Widerstandsbewegung ihre Treffen hatten – eine Scheune in Doesburg. Man hat diese alte Scheune, die erfreulicherweise noch nicht abgerissen war, sorgfältig untersucht. Unter den Dachziegeln fand man das Original.


Die Meinungen, warum die Alliierten schwiegen und trotz Kenntnis der Verbrechen unaktiv blieben, gehen weit auseinander. Es wurden auch keine Zufahrtswege zu den Vernichtungslagern bombardiert oder Flugblätter mit diesen Informationen abgeworfen. Flugblätter mit anderen Texten wurden in großen Mengen von den Alliierten abgeworfen. Ich kann mich gut erinnern, wie ich im Krieg öfters mit einem Freund auf die Felder in die Nähe des Flughafens in Holt, wo ein Jagdgeschwader stationiert war, mit dem Fahrrad fuhr, um diese Informationen zu sammeln. Das war natürlich auch streng verboten.


In den Sommerferien 1943 war ich eine Woche Gast bei einem Bruder meines Vaters, der Pfarrer in Berlin war. Ich besuchte Kurt Gerstein im Hygiene Institut. Als typisches Erziehungsprodukt meiner Mutter grüßte ich dort mit „Guten Morgen die Herren, kann ich bitte Herrn Gerstein sprechen“. Gleich wurde ich angepfiffen, kannst Du nicht Heil Hitler und Obersturmführer Gerstein sagen. Ich zuckte mit den Schultern und fragte, was sie dagegen hätten, dass ich Ihnen einen guten Tag wünsche. Ich käme aus dem Rheinland, wo man immer so grüßen wurde. Und dann kam Vatti. Er schlug zackig die Hacken zusammen und grüßte mit erhobener Hand: Heil Hitler Hans-Georg. Er nahm mich dann schnell mit in sein Büro und sage mir: Du müsstest doch wissen, was los ist. Ohne Verstellung kann man hier nichts erreichen. Er gab mir für meine Eltern detaillierte Informationen über die Vernichtungslager in Polen. Er sprach von seinem holländischen Freund, der diese Meldungen nach London geben würde. Er fragte mich, wann fährst Du nach Hause? Ich antwortete: in 3 Tagen. Darauf sagte er: in einigen Tagen fahre ich mit einem schicken Mercedes nach Krefeld. Willst Du nicht lieber mit mir fahren? Ich war natürlich begeistert. Wie er mir dann weitere Heimlichkeiten für meine Eltern auftrug, fragte ich ihn, ob er auch alleine mit seinem Fahrer im Wagen sein würde. Ich wusste, dass sein Fahrer aus der Bekennenden Kirche kam. Nein war die Antwort, noch zwei SS-Offiziere. Ich dachte einen Moment nach und sagte, bitte versteh mich, Vatti, ich weiß nicht, ob ich bei einer so langen Fahrt nicht etwas Falsches sage. Ich fahre lieber mit dem Zug.


Typisch, Vatti nahm mich ernst und bedrängte mich in keiner Weise. Drei Tage später begleitete mich meine Cousine zum Bahnhof, damit ich in den völlig überfüllten Zügen wenigstens einen Stehplatz am Fenster ergattern konnte. Dank meiner Cousine konnte ich ohne Gepäck durchs Fenster klettern. Wenige Minuten später rief der Lautsprecher: Hans-Georg Hollweg bitte melden! Verängstigt habe ich das getan. Ich sah einen SS-Mann auf mich zulaufen und wäre vor Angst am liebsten im Boden versunken. Er sah wohl mein bleiches Gewicht, klopfte mir auf die Hand und sagte, Vatti will Dir auf Wiedersehen sagen. Es war sein Fahrer. Vatti kam dann angelaufen und brachte mir Reiseverpflegung. Trotz der Stresssituation, in der er sich ständig befand, dachte er auch noch an diesen 13jährigen – das war aber für ihn typisch.


Als ich meiner Mutter von der Einladung zum Fahren mit einem schicken Mercedes anstatt eines überfüllten Zuges erzählte, war sie stolz auf ihre Erziehungserfolge. Mit Überraschung konnte ich 1942/3 feststellen, dass aufgrund der Berichte von Gerstein mein Vater sich von der lutherischen Tradition der Untertänigkeit unter den Landesfürsten abwandte und Juden half, sich zu verstecken. Dies geschah mit Hilfe eines kleinen Kreises des Presbyterium. Vater hatte nach Absprachen den Fischhändler Horn als angeblich Kranken an die Grenze nach Holland gebracht. Der in Gladbach bekannte spätere Ratsherr und Leiter der Dresdner Bank, Herr Spiegel, kam an einem Sonntag Vormittag zu Vater, dass er sich am nächsten Tag bei der Gestapo melden müsste. Vater gab ihm mein Fahrrad und sagte: Sie dürfen nicht mehr zu Ihrer Wohnung. Er machte mit ihm einen Treffpunkt in Waldniel aus und sagte: ich komme mit dem Auto nach. Herr Spiegel wohnte zuerst im Bootskeller von Dr. Bay, der ausgebombt an den Hariksee gezogen war. Herr Spiegel musste aber dort nach wenigen Monaten verschwinden, da die Nazis den Schwager von Dr. W. Bay suchten. Es war der spätere Gladbacher Kulturdezernent Hanns Schmitz. Vater brachte Herrn Spiegel zurück nach Gladbach, wo er bei 2 oder 3 treuen  Gemeindemitgliedern Unterschlupf fand. Für Herrn Spiegel wurde die Verpflegung bei uns gesammelt. Ich musste sie dann zu der jeweiligen Familie bringen. Ich habe dabei viele Ängste ausgestanden. Vorbild für mich war dabei immer mein Vatti.


Der von Gerstein informierte Landesbischof Wurm bat im Juli 43 brieflich den Führer um Schonung der „privilegierten Nichtarier“ - das waren die jüdischen Ehegatten von Ariern und Kinder aus diesen Ehen. Ein der Kirche gut gesonnener Beamter der Reichskanzlei vernichtete den Brief. Sonst wäre Bischof Wurm sicherlich sofort verhaftet worden.


Gerstein hatte Kontakte mit den Verschwörern des Kreisauer Kreises. Er ist aber am 20. Juli nicht beteiligt. Wie schon gesagt, sah er keinen Nutzen in einem Attentat auf Hitler.


In 1944 waren seine Besuche ganz selten, 1945 überhaupt nicht mehr. Am 26. März 1945 tauchte er plötzlich in Tübingen auf, wo seine Frau und seine drei Kinder lebten. Er geht aber weiter nach Westen, um sich möglichst den Amerikanern zu stellen. Er stößt auf französische Truppen. Er wurde interniert und bekam in Rottweil ein Zimmer im Hotel zum Mohren. Bei dem dortigen Ortspfarrers entlieh er sich eine Reiseschreibmaschine, um im Mai 45 den berühmten Gerstein Bericht zu schreiben und zwar in mehreren Fassungen, deutsch, französisch und englisch. Eine der Kopien sandte er per Post an meinen Vater. Der Brief kam erst im Juli oder August 45 an. Ich nahm ihn aus dem Briefkasten und stürzte zu meinen Eltern: Vatti lebt! Leider war er inzwischen schon längst tot.


Von Rottweil wurde er ins Pariser Militärgefängnis Cherche-Midi überstellt, wo man ihn wegen Kriegsverbrechen anklagte. Wie das traurige Ende war, ist bis heute nicht geklärt. Die Bücher dieses Militärgefängnisses sind für 100 Jahre verschlossen. Wir hatten gehofft, dass ARTE für den Film eine Ausnahmegenehmigung erhielt. Leider hat es nicht geklappt. Die Freunde von Vatti sagten seit 1945: er hat Selbstmord begangen. Die Mehrzahl der Gerstein Familie, nicht seine Frau Elfriede, sagten: er ist ermordet worden. Genau zwei Tage vor dem Tod von Kurt Gerstein hatte Baron von Otter sich bemüht, ihn ausfindig zu machen. Am 7.8.45 übergibt Baron Langerfeld im Auftrag der schwedischen Regierung dem Foreign Office in London eine Denkschrift über Kurt Gerstein. Drei Jahre zu spät für die Juden,

13 Tage zu spät für Kurt Gerstein. Es folgten in der BRD verschiedene Prozesse, Gerstein galt als schuldig. Seiner Frau wurde die Pension gestrichen. Seine Frau Elfriede kämpfte unermüdlich um die Rehabilitierung. Wieso wurde dieser integre Mann, der sein Leben für seine Mitmenschen geopfert hatte, nichtanerkannt? Vergessen wir bitte nicht: nach der Gründung der BRD blieben unzählige Nazis in ihren Ämtern. Auch Teile des Beamtenapparates, der Professoren, Richter, Ärzte usw. versuchten leider erfolgreich die Nazis zu decken und Unschuldige in den Vordergrund zu schieben. Vergessen wir bitte auch nicht: dass die deutsche Bundesregierung all die Jahre gewusst hat, wo der Superverbrecher Eichmann sich aufhielt. Leute wie Gerstein waren nach dem Krieg nur unbequem. Leon Poliakov, ein jüdischer Historiker, sagte nach dem Krieg: „Unsere persönliche Überzeugung lässt sich in zwei Worte fassen: der deutsche Gerstein war ein Gerechter unter Heiden und sein Name verdient, von der Geschichte aufbewahrt zu werden als eines Mannes mit einem edlen, gequälten Gewissen“.


Pastor Niemöller: „Er besaß außerordentlichen Mut. Er besaß mehr Mut, als sein Körper fassen konnte.“ 1963 würdigt Rolf Hochhuth in seinem Schauspiel „Der Stellvertreter“ die Person Kurt Gerstein. Der Vatikan sah darin einen unberechtigten Angriff auf die Haltung des Papstes zum Holocaust. Die sachliche Aufarbeitung dieser Geschichte fand bis heute nicht statt, da die Archive verschlossen sind. 1967 publizierte Saul Friedländer als erster ein Buch, erst in französisch „Kurt Gerstein ou l’lambiguitè du bien“, ein Jahr später in deutsch: „Kurt Gerstein oder die Zwiespältigkeit des Guten“.


Dabei sollte man daran denken, dass die Eltern von Saul Friedländer in Auschwitz ermordet wurden. Seine Eltern waren auf der Flucht von Prag bis nach Südfrankreich gekommen. Sie brachten Ihren siebenjährigen Sohn in einem Kloster unter und änderten seinen Namen von Saul auf Paulus. Auf der weiteren Flucht hatten sie schon via Frankreich die Schweiz erreicht. Sie wurden aber von schweizer Beamten an die Franzosen übergeben und von dort ins Gas geschickt. 1968 veröffentlichte Pierre Joffroy eine Biografie „Der Spion Gottes“, 1995 eine erweiterte Neuauflage: „Kurt Gerstein – ein SS-Offizier im Widerstand”.


Ich hielt meinen ersten Vortrag über Kurt Gerstein 1978. Wörtlich sagte ich, „neben meinen Eltern gab es keine Person, die auf mich als Kind und Jugendlicher einen so tiefen Eindruck gemacht hat“. Ich vertrat u.a. auch den Standpunkt, dass Gerstein Selbstmord begangen hatte. Ich wurde von verschiedenen Seiten wegen Verbreitung von Lügen angegriffen. Auch in der studentischen Verbindung, der Kurt Gerstein angehörte, war er bis vor wenigen Jahren eine Unperson.


1993 hielt ich einen zweiten Vortrag über Kurt GERSTEIN und sagte, von meinem Vortrag 1978 brauche ich nichts zurückzunehmen. Die meisten Dinge sind inzwischen historisch bewiesen. Der große Durchbruch erfolgte erst – wie bereits gesagt – 1999, also über 50 Jahre nach dem Krieg! Zwei Niederländer durchforschten die Archive der holländischen Exilregierung in London. Sie fanden dort den „Holländischen Gerstein Bericht“ vom Frühjahr 1943. Man fand auch einen ausdrücklichen Vermerk, dass die Regierungen von London, Washington, Schweden und Schweiz informiert wurden. Auch die englischen Archive wurden geprüft: der Empfang des Berichtes wurde bestätigt.


Und welche Folgen im Krieg? Keine!!


1991 hielt ich einen Vortrag über Kurt Gerstein in einem französischen Rotary Club. Ich erzählte u.a. auch die Lebensgeschichte der Frau meines Freundes Gerd Weinstein. Die Eltern seiner Frau Helga waren von Berlin aus geflüchtet und kamen bis Südfrankreich. Die damalige Vichy-Regierung des unbesetzten Teiles Frankreichs machte mit Himmler einen Vertrag, dass alle Juden über 16 Jahren nach Deutschland ausgeliefert wurden. So blieb die 9 jährige Helga in einem Waisenhaus der Quäcker. Ein Jahr später bat Laval, Leiter der Vichy Regierung, in einem archivierten Telegramm an Himmler, auch die jüdischen

Kinder zu akzeptieren, da er kein Rachepotential im Lande halten wolle. Himmler entsprach gerne diesem Wunsch. In dem Waisenhaus waren schon 5 Kinder aussortiert. Ein französischer Bauer hat diese 5 Kinder übernommen, wodurch Helga überlebte. Können Sie nachempfinden, dass ich viele Jahre nicht verstehen konnte, dass Helga meine Person – und ich bin nun einmal ein Deutscher – akzeptierte? Es war nicht leicht für sie. Aber nach vielen Jahren ist sie auch wieder nach Deutschland gekommen. So war mein Leben bis heute immer wieder geprägt von den Verbrechen, die wir Deutsche begangen hatten. Nicht nur Frankreich, auch in anderen besetzten Gebiete wurden die Juden von der einheimischen Polizei an die Deutschen ausgeliefert. Selbst auf der einzigen englischen Insel, die die Wehrmacht 1940 besetzte, lieferte der Constable die einheimischen Juden an die Deutschen aus! Nur Italien und Dänemark fanden Wege, einen Teil ihrer Juden zu beschützen.


Welches Fazit habe ich aus meiner lebenslangen Beschäftigung mit diesen Themen gezogen? Die christlichen Kirchen hatten Jahrhunderte lang eine Judenfeindlichkeit geschürt, die in die verbrecherischen Ideen der Nazis passten. Hinzu kam eine hemmungslose Raffgier, die wir auch heute schon wieder beklagen müssen. Die meisten Juden waren keine armen Leute und Geld wurde für die Kriegsmaschinerie benötigt. Des weiteren waren die Juden unbeliebt, da sie in Wissenschaft und Kultur eine Elite hatten, die viele Christen mit großem Neid erfüllte, Es waren 40 und mehr Jahre notwendig, bevor man sich in Europa entschloss, das Versagen anzuerkennen und aufzuarbeiten. Auch Kurt GERSTEIN musste mehr als 5 Jahrzehnte warten, bis ihm von großen Teilen seiner Familie, seiner Verbindung und auch von der evangelischen Kirche die ihm zustehende Achtung gezollt wurde.


Zum Jahrhundertwechsel erklärte Bischof Huber, höchster Repräsentant der evangelischen Kirche in Deutschland, dass Kurt GERSTEIN zusammen mit Dietrich Bonhoeffer als Widerstandskämpfer zu nennen ist. Und wie lange hatte es gedauert, bis selbst Bonhoeffer offiziell anerkannt wurde? Auch das Haus des deutschen Widerstandes in Berlin nennt erst seit 10 Jahren den Namen Kurt GERSTEIN.


Auf Grund des Theaterstück „Der Stellvertreter“ war und ist bis heute Gerstein für den Vatikan eine Unperson. Eine ganz neue Entschuldigung für das Schweigen des Papstes ist im Umlauf: der Papst hätte aus politischen und klugen Gründen geschwiegen. Nachdem der niederländische Kardinal de Jong aus Utrecht 1942 einen Hirtenbrief gegen die Vernichtung der Juden verfasst habe, hätte sofort eine Verhaftungswelle eingesetzt. Jetzt behauptet der Vatikan, Hochhuth habe 1963 das Theaterstück als bezahlter Agent der Russen geschrieben, um den Papst zu diffamieren. Vor einigen Jahren nahm die Süddeutsche dazu Stellung und nannte Namen von vielen Nazigrößen, die durch die diplomatische Hilfe des Vatikan ihrer gerechten Strafe entgingen.


Sie sehen, wie aktuell das Thema Kurt GERSTEIN heute noch ist. Der Vatikan hält sein Archiv über diese kritischen Jahre noch immer verschlossen. Man hat zugesagt, sich um die Öffnung der Archive zu bemühen. Dieser Entwicklung sehe ich mit großer Spannung entgegen. Es hat lange nach dem Krieg gedauert, bis die Hetze der christlichen Kirchen, dass die bösen Juden Christus ans Kreuz geschlagen haben, endlich aufhörte. Ich habe noch gelernt: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ und Judas war der Verräter! Heute haben wir alle erfreulicherweise dazu gelernt, dass Jesus, Maria und Joseph, alle Juden waren! Es hat ein positives Umdenken begonnen, wofür ich dankbar bin.


Saul Friedländer, offiziell anerkannt als der bester Kenner der Holocaust-Geschichte und deshalb den Preis der Buchmesse erhielt, hatte ursprünglich Zweifel an der Person Kurt Gerstein. Nachdem aber die moderne Forschung klar bewiesen hat, dass Kurt Gerstein gradlinig und ehrlich war, ist laut Friedländer jeder Zweifel an seiner Integrität weggewischt.


Von jüdischer Seite ist noch keine Anerkennung erfolgt. Man beschuldigt Gerstein, dass er das Gas für die Kammern geliefert hat. Das ist sicherlich für jeden Juden ein schwerwiegendes Argument. Aber man muß verstehen, dass Gerstein das Spiel der verbrecherischen Nazis mitspielen musste, um die Welt über die grausame Wahrheit informieren zu können. Er hat mehrfach sein Bestes versucht, Gaslieferungen zu vernichten. Das waren aber leider nur kleine Mengen. Er alleine konnte den Holocaust nicht stoppen, deshalb seine These: Deutschland muß den Krieg verlieren. Es ist furchtbar, dass die westliche, christliche Welt faktisch nichts unternommen hat, um das durch Gerstein und auch andere bekannt gemachte Verbrechen zu stoppen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass auch die jüdischen Kreise erkennen, dass Kurt GERSTEIN einer der ganz wenigen opferbereiten Mitmenschen für sie war. Er war ein wirklicher Christ. Ich habe nie aufgehört, ihn zu bewundern und zu verehren.


Meine früheren Vorträgen beendete ich mit der Frage an meine Zuhörer und auch mich selber: „Wären wir bereit, für einen unterdrückten, leidenden Nächsten unsere Ehre, Familie und Leben zu wagen? Gerstein tat es!“


Darf ich bitte meinen Vortrag beenden mit einem Gedicht einer Verwandten, Ulrike Sasse-Voswinckel aus Soest, die 2001 ein Buch über das jüdische Leben bis 1942 in Soest geschrieben hat.



steine

auf

jüdischen Gräbern


träger

von gedanken

wünschen

erinnerungen


gebetssteine

für immer


in Händen

erwärmt

auf gräber

gelegt


gedankensteine

müssen wir

schleppen

lebenslang


kein ort

auf erden

sie abzulegen

Kurt Gerstein – „Der Spion Gottes“